HERMANN WÜNDRICH
Der Spagatkünstler. Bertolt Brechts politisches Schreiben in der Weimarer Republik
Jene 15 Jahre, die man heute als die Weimarer Republik bezeichnet, entsprechen präzis jener ersten entscheidenden produktiven Phase des Stückeschreibers Bertolt Brecht. In dieser Zeit formt er die Idee eines Theaters von gesellschaftsverändernder Relevanz, das getragen wird von einem konkreten Geschichts- und Utopiebewußtsein. Aber wie sollte dieses Theater aussehen? Brecht experimentierte.
Die Stücke, die er schrieb, teilweise gleichzeitig, sind so unterschiedlich, variieren in Form und Inhalt, als könnten sie von verschiedenen Autoren geschrieben worden sein. Expressionistisch und balladenhaft anmutende Dramen stehen neben proletarischem Agitprop-Theater, die hermetischen Lehrstücke neben psychologischen Charakterstudien. Das politische Engagement, vermittelt‚ durch ein neues formales Konzept, das bis zur Selbstauflösung des Theaters reicht, steht dem kulinarischen Charakter von Operette, Oper und Revue gegenüber. Geht es auf der einen Seite um das Verhältnis des Einzelnen zum Kollektiv, also um revolutionäre Praxis, steht auf der anderen Seite eine unterhaltsame Kapitalismuskritik.
Zwischen diesen Polen pendelte Brechts dramatisches Schaffen jener Zeit. Die Gegensätze, die sich in Person Brechts bündeln und ihn gleichsam als einen Spagatkünstler erscheinen lassen, sollen auf ihre jeweilige Wirksamkeit hin befragt werden. Mit welchen ästhetischen Mitteln versuchte Brecht, seine antifaschistischen und antikapitalistischen Themen Ausdruck zu verleihen? Wie effektiv waren die unterschiedlichen Ansätze seines politischen Schreibens? Wie wurden diese Werke verstanden und welche Wirkung entfalteten sie? Konnten sie mit dem Anspruch seines eingreifenden Denkens tatsächlich in die Realität eingreifen? Und nicht zuletzt, haben seine Strategien angesichts der verwirrenden Komplexität in einer globalisierten Welt und der aufkeimenden Bedrohung durch einen neuen Faschismus heute noch einen Wert für uns? Liefert Brecht Modelle für politisches Schreiben heute?
Brechts Theaterkonzepte lassen sich als ein Erkundungsgebiet, als Versuchsfeld begreifen, um Politik und Ästhetik zusammen zu denken. Selbst dort, wo seine Ideen scheiterten oder inzwischen überholt erscheinen, leben seine Fragen noch, sind wieder aktuell und provozieren neue Antworten. Finden wir, auf seinen Schultern stehend, die unsrigen?